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14.12.2024 : 22:41 : +0100

Drei Wochen in einem Indigena-Dorf

2001 waren wir als MenschenrechtsbeobachterInnen ueber FrayBa (siehe vorherige Seite) im “Pueblo Autónomo en Rebeldía Dolores Hidalgo” im Tiefland nahe der Selva Lacandona, die das Rueckzugsgebiet der EZLN ist. Diesmal wollten wir nach Los Altos (die Bergregion um San Cristóbal) und Frayba schickte uns daher nach Unión Progreso, etwa 80 km noerdlich der Stadt. Dort leben heute ungefaehr 30 Familien des Volks der Tzotziles. Es existiert seit 1986, damals kauften 16 Familien das Land dem Grossgrundbesitzer ab. (Viele andere autonome Doerfer – wie auch Dolores Hidalgo - entstanden dadurch, dass die Bauern 1994 mit dem Beginn der zapatistischen Rebellion Land besetzten, das sich Grossgrundbesitzer widerrechtlich anggeignet hatten.)

Am 8. Feber fuhren wir in der Frueh mit einem Sammeltaxi nach San Antonio el Brillante, einem ebenfalls autonomen Dorf an der Strasse, die hier am Berghang entlangfuehrt. Auf der anderen Talseite liegt Unión Progreso. Ueber Funk (den alle autonomen Doerfer haben) wurden die Leute dort verstaendigt, dass frische “Campamentistas” angekommen sind. Zwei Maenner holten uns spaeter ab, dann ging’s ueber einen schlechten Fussweg (teilweise mit Schlamm) mit den Rucksaecken in der Hitze des Nachmittags hinunter in die Schlucht des Rio Baco und auf der anderen Seite wieder hinauf, das waren zwei anstrengende Stunden. Untergebracht wurden wir in der Finca, dem ehemaligen Haus des Grossgrundbesitzers, das einmal schoen gewesen sein wird, jetzt aber etwas desolat ist. Ein Teil wird als Lager fuer Mais und Kaffee verwendet, uns standen zwei Raeume zur Verfuegung, in einem ohne jegliche Einrichtung haengten wir die Haengematten auf, der andere diente uns als Speis. Nebenan ist in einem Stadel die offene Feuerstelle, an der wir den Fruehstueckskaffee und taeglich zwei Mahlzeiten kochten. Die Fieberbrunner Oma, die fast ihr ganzes Leben auf einem Holzherd gekocht hatte, waere beeindruckt gewesen. Das Brennholz konnten wir in einem Schuppen holen, es musste meist noch gehackt oder mit einer alten Machete gespalten werden, bei unseren Spaziergaengen sammelten wir auch immer trockene Aeste. Von den Familien bekamen wir Tortillas, Kaffee und manches Mal Bananen, den Rest kauften wir in den drei “Geschaeften”: schwarze Bohnen, Reis, Nudeln, einige Konservendosen mit scharfer Tomatensosse, zwei mit Tomatensardinen, Zucker, Kekse; kurz vor der Abreise gab’s auch Tomaten und Mandarinen zu kaufen. An einem Sonntag brachte uns jemand aus dem naechsten groesseren Ort Zwiebeln, Orangen, Zitronen und zehn kleine Brote mit. Bei den Nachbarn konnten wir die Eier von den Huehnern, die vor unserem Haus herumliefen, erstehen und das Wasser holen, das wir zum Trinken purifizierten und uns zum Duschen drueberschuetteten, in unserem Bad, dessen Anschluesse nicht mehr funktionierten. Aber anders als in Dolores Hidalgo hatten wir den Luxus von elektrischem Licht. Haupt-Aufenthaltsort war die schoene, schattige Terrasse mit etwas improvisierten Sitzmoebeln. Dort lasen wir, lernten Spanisch-Vokabeln und hoerten Radio Amanecer de los Pueblos, das Radio des Tagesanbruchs der Voelker aus der autonomen Gemeinde San Andrés Sakamch'en.

Wir hatten meist schoenes Wetter und dann war’s untertags auch heiss, bei Regen kaelter und etwas ungemuetlich. Wir hatten dafuer Fleece-Jacken mit, die Tzotziles ziehen sich dann aber oft keine waermere Kleidung an, was ein Grund dafuer sein wird, dass fast alle einen chronischen Husten haben und erkaeltet sind. So wie wir stehen die Frauen ausserdem beim Kochen im Rauch, da kaum jemand einen Kamin hat. Unión Progreso liegt auf einem Plateau umgeben von Wald und Feldern, auf dem es schoene Spaziermoeglichkeiten fuer uns gab.

Die Leute im Dorf bauen Mais und Kaffee an, was sie auch verkaufen. (Der Kaffeepreis ist momentan relativ gut, sie bekommen fuer das Kilo 17 Pesos – 1,20 Euro – gegenueber 2 Pesos vor einigen Jahren.) Bohnen pflanzen sie auch, sie gedeihen hier aber nicht besonders gut. Es sieht so aus, als ob sie momentan auf Bananen umstellen, aber das vergassen wir zu fragen. Viele Huehner laufen im Dorf herum, einige Enten und Schafe, manche haben Rinder fuer die Fleischproduktion, fast jede Familie hat zwei oder mehr Pferde zum Lastentransport und Reiten. Wie schon in Dolores Hidalgo erstaunten uns die (vegetarischen?) Hunde, wenn wir sie fressen sahen, waren das immer Essensreste wie alte Tortillas oder Reis, nie Fleisch, und sie leben sehr harmonisch mit den Kueken zusammen.

1998 war ein traumatisches Jahr fuer die BewohnerInnen. Die Regierung des Bundes (von Praesident Zedillo) und die von Chiapas versuchten damals erneut den zapatistischen Widerstand in den autonomen Gemeinden mit brachialer Gewalt zu brechen. Wie das in anderen Doerfern auch passierte, umstellten am 10. Juni um drei Uhr frueh Militaer, Polizei und Paramilitaer das Dorf, erschossen fuenf junge Maenner und terrorisierten die Menschen, die nicht rechtzeitig fluechten konnten. Andere Maenner wurden stundenlang festgehalten, geschlagen und sollten Informationen ueber die EZLN preisgeben. Beim Abzug am Nachmittag nahmen sie mit, was sie gebrauchen konnten (Fernseher, Huehner, andere Lebensmittel, Kleidung ...) und verwuesteten die Haeuser. Im Dezember kamen sie wieder. Diesmal konnten die Leute von Unión Progreso aber rechtzeitig fliehen und lebten eine Woche versteckt in den Bergen, bevor sie sich in das neuerlich verwuestete Dorf zuruecktrauten. Nach diesen Erlebnissen leben sie ruhiger, wenn Campamentistas anwesend sind, ausserdem haben sie einen Wachdienst eingerichtet, den alle Maenner abwechselnd uebernehmen. Wir wussten, dass die fuenf Maenner in der Naehe begraben sind. Als wir nach dem Weg zum Friedhof fragten, brachte uns einer aus dem Dorf hin. Dort sagte er, dass zwei seiner Soehne darunter waren.

Da es seit 1994 viele solche autonome Doerfer in Chiapas gibt und sie sich trotz der Bedrohung durch Militaer, Polizei und Paramilitaer immer besser organisieren, wurde eine Realitaet geschaffen, die hoffentlich nicht mehr rueckgaengig gemacht werden kann. Dies ist das Besondere an der zapatistischen Guerilla, dass sie ihre bewaffneten Aktionen von 1994/95 nicht als Beginn eines Buergerkriegs zur Eroberung der Macht verstanden, sondern als Druckmittel, um eine Verbesserung der sozialen Lage der indigenen Bevoelkerung zu erreichen und “Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit” (ihre zentralen Forderungen) in der mexikanischen Gesellschaft zu verwirklichen. Dabei setzt die EZLN auf die nationale und internationale “Zivilgesellschaft”, um in Mexiko und weltweit gegen den Neoliberalismus, den sie als Hauptursache fuer die Ausbeutung der Menschen ansieht, zu mobilisieren. Mit ihren vielen politischen Aktionen hat sie einen grossen Teil der mexikanischen Oeffentlichkeit erreicht und die Situation in Chiapas wird auch auf internationaler Ebene zumindest so stark wahrgenommen, dass woechentlich zehn bis zwanzig Menschen allein bei FrayBa auftauchen um als MenschenrechtsbeobachterInnen die autonomen Doerfer zu unterstuetzen.

Nach drei gluecklicherweise beschaulichen Wochen machten wir uns in der Frueh des letzten Februartages auf den Rueckweg. Den Steig ueber die Schlucht des Rio Baco wollten wir nicht unbedingt nochmals gehen, und es gibt auch eine Alternative: Eine halbe Stunde zu Fuss oberhalb von Unión Progreso fuehrt eine schoene neue Strasse vorbei, auf der uns ein Kleinlaster auf der Ladeflaeche mitnahm bis zum Militaerstuetzpunkt Puerto Cate. Da hier Durchreisende manchmal kontrolliert werden (und MenschenrechtsbeobachterInnen sich nach der Interpretation eines mexikanischen Gesetzes durch die Militaers illegalerweise in die inneren Angelegenheiten Mexikos einmischen), wird diese Route nicht fuer die Anreise benuetzt. Von der Kreuzung mit dem Stuetzpunkt fahren wieder die Sammeltaxis nach San Cristóbal, wo wir ein ausgiebiges zweites Fruehstueck einnahmen, bevor wir uns um elf bei FrayBa zum Nachbesprechungstermin mit den anderen Campamentistas trafen. Beim Einfuehrungsworkshop drei Wochen vorher waren Menschen aus Argentinien, Chile, Spanien, Norwegen und der Schweiz, dieses Mal kamen sie bis auf die beiden NorwegerInnen aus den drei deutschsprachigen Laendern.

Zwei Tage blieben wir noch in der Stadt, unter anderem um die Waesche erledigen zu lassen. Zu unserem naechsten Ziel Oaxaca gibt es nur Nachtbusse, und nach elf Stunden waren wir am 3. 3. in der Stadt der LehrerInnenproteste. Dazu gibt’s aber endlich eine neue Seite (in ein paar Tagen).

 

¡Hasta pronto!                                                                           5. Maerz 07

Unión Progreso
Unsere Finca
Graeber der Toten von 1998
"Autonome" Bildung (San Antonio)
"Die Schulbildung kann sich nicht abkoppeln von den Kaempfen der Voelker zur Verbesserung der Lebensbedingungen."
"Hier entsteht die autonome Bildung zur Schaffung der neuen Frau und des neuen Mannes."